Der Alltag – da spielt das Leben, da lebt, wo sonst, der Glauben. Es sind nicht die großen Gesten, es ist nicht das Außergewöhnliche, nicht das Außerordentliche, das dem Alltag Glanz verleiht. Glanz entsteht, wo das Unscheinbare, das scheinbar Selbstverständliche, das ganz normal Verrückte geachtet wird. Der Glaube und mit ihm der Alltag lebt in den Augenblicken, in den Schritten, die ich gehe, einen nach dem andern – staunend, zweifelnd, zupackend. Ich lebe nicht grundlos. Mein Leben hat einen Grund, auf dem ich stehe, auf dem ich gehe.
Eine der vornehmsten Möglichkeiten, das Christentum zu verstehen, ist die, es als Anleitung zu nehmen, den Alltagen ihre unverwechselbare Gestalt zu geben. Dabei ist Glauben nicht ein Regelwerk, nicht zuerst eine Sammlung von Lehrsätzen. Er ist auch nicht ein anderes Wort für Nicht-Wissen, wie die Umgangssprache es vermuten lässt. Glauben heißt, sich täglich neu im Vertrauen zu üben. Misstrauen muss nicht geübt werden, wohl aber das Vertrauen: Ich bin gewollt, so wie du auch. Ich bin nicht allein. Es hängt nicht alles an mir, auch nicht an dir. Es lohnt sich, sein Herz an das Gute hinzugeben. Wir sind geliebt, auch da, wo nichts darauf hindeutet. Ich bin angesehen – mit einem wohlwollenden Blick.
Eine Hilfe, Vertrauen zu nähren, ist, den Alltagen Struktur zu geben, ein Geländer, damit sie nicht zerfließen, und zugleich so viel Offenheit, dass sie Eigenverantwortung und Eigeninitiative ermöglichen und fördern. Eines der Alltagsgeländer sind, gerade in einer evangelischen Spiritualität, Worte der Bibel: sie bewusst wählen und memorieren – vielleicht sie, wie in den Losungen, auf sich zukommen lassen. Oder meditative und informative Impulse, wie sie etwa im „Anderen Advent“ und der Fastenaktikon zu finden sind. Das bringt andere Gedanken in mein Leben, stärkt den aufrechten Gang. Zeiten der Stille, des Schweigens gehören dazu. Ausatmen. Auf dem Rand des Bassins am Wasserturm am Friedrichsplatz in die Sonne blinzeln. Im Büro ans Fenster treten, Körper und Seele lüften. Eine offene Kirche am Weg. Alltagsgeländer meint: Zeiten und Orte der Begegnung mit mir selbst, mit Gott zu schaffen, sie bewusst zu suchen, sich ihnen zu lassen. Einen klitzekleinen Teil meiner Energie darauf verwenden, zu spüren, was ich brauche, um nicht atemlos zu werden. Was andere brauchen. Was uns zusammenhält. Alltag ist immer mein Jetzt, ist Gegenwart – und da mitten drin Gottes Zeit.
Es ist der wohlwollende, der liebende Blick, der einem jeden, einer jeden gut ansteht. Der allen gut zu Gesicht steht: zwischen Eltern und Kinder, zwischen Partnerinnen und Partnern, zwischen Kirchenleuten unterschiedlicher Konfessionen, zwischen Menschen unterschiedlicher Religionen und politischer Einstellungen, zwischen Angehörigen unterschiedlicher Ethnien und Nationen, zwischen Nachbarn. Das liebende Auge vermag den andern in seiner Würde zu sehen, gerade dann, wenn sie bedroht ist. Ein wohlwollender Blick sieht klar, sucht den Ausgleich, sucht den Frieden. Das bleibt nicht ohne Wirkung: Nach Innen wird es die Dankbarkeit fördern und die Bereitschaft, immer wieder zu vergeben, nach außen die Fähigkeit, sich mit seinen Anliegen selbstbewusst zu vertreten und sich versöhnen zu lassen. Kein Wunder setzt der Apostel Paulus fast ganz am Ende des 1. Korintherbriefs den Hinweis auf das Vertrauen und den Mut: Mehrt alles, was euer Vertrauen und euren Mut, euren Glauben stärkt. Und nehmt jede Gelegenheit wahr, die euch beflügelt, die eure Hoffnung groß macht. (Foto: Alexander Kästel)
Pfarrer Dr. Michael Lipps
Leiter TelefonSeelsorge Rhein-Neckar